Eine ganze Stunde

Die Oper, im warmen Abendlicht getaucht, überstrahlt den ganzen Platz. Magisch zieht das imposante Gebäude mit seinen schlanken Säulen die Menschen an, die sich auf den Stufen niederlassen, um ein Bad im Licht zu genießen.

Die Schatten der Menschen werden länger. Es gibt nur einen Augenblick, indem es passiert, die Gelbtöne auf dem angestrahlten Gebäude verblassen und der Himmel sich verwandelt. Jede Minute entsteht ein neues Bild. Blasse Hauswände, hier und da eine Beleuchtung die Raum gewinnt. Manche Menschen eilen dahin, andere beginnen zu flanieren. Diese eine Stunde ist ein Augenschmaus bevor sich auch die Menschen in all ihrer Pracht und Einzigartigkeit in beliebig scheinende dunkle Gestalten verwandeln.

Hüpfende Kinder, ein Eis in der Hand, sich Treffende, die sich umarmen. Hier genießen zwei die sich gefunden haben anschmiegsam die Nähe des anderen. Wortfetzen dringen lauter werdend an das Ohr als jemand in sein mobiles Telefon schreit: „Soll ich es Ihnen buchstabieren? M wie Mann, A wie Anton, I wie Igel, E wie “ Und schon wird die Stimme von den Geräuschen der Tram übertroffen. Es ist schon die fünfte Tram. Anfangs dicht besetzt, Menschen standen in den Gängen, kann man nun die wenigen Fahrgäste wie in einem Schaukasten beleuchtet schamlos betrachten. 

Am Nebentisch lassen sich zwei Anwälte nieder. Einer redet von seiner Ex als Irrsinnige, die es nicht in Griff hat, dass der Sohn die Schule besucht und der Therapeut, der schafft es auch nicht. Die anderen Schwachmaten in seiner Umgebung, wie die eine, die es auch nie begreift, dass sie nervt, immer und überhaupt, … Dieser Text wird von Details eines Arztbetrugsprozesses des anderen flankiert und bevor ich beginne wegen der vor Selbstdarstellung triefenden Inszenierung am Nachbartisch unter Brechreiz zu leiden, verlange ich mit sanfter Stimme die Rechnung und verlasse die Bühne. Der Vorhang fällt.


Ich folge der wunderbaren Schreibeinladung für die Textwochen 36.37.22:

Die Wörter für die Textwochen 36/37 des Jahres 2022 stiftete Ludwig Zeidler. Sie lauten:

Brechreiz
anschmiegsam
buchstabieren

auf Irgendwas geht immer.

Die Spielregeln sind: Drei Begriffe in maximal 3oo Wörter zu verpacken, die Textart ist egal.


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Texte und Bilder sind eine große Faszination für mich. Hier gibt es mehr davon.

Bilder erzählen ihre eigenen Geschichten.

Die Stimmungstafeln sind eine kleine Lockerungsübung mit Motiv, Text und Farbe zu spielen.


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Kommentare: 4
  • #1

    Werner Kastens (Donnerstag, 15 September 2022 17:56)

    So manche Alltagsgespräche können einem einen svhönen Tag verderben.
    Gut eingefangen!

  • #2

    Christiane (Donnerstag, 15 September 2022 19:33)

    Eine sehr lebendige Szene, die ich mir gut vorstellen kann, auch wenn ich vermutlich mich ebenso unauffällig entfernen würde. Ich finde deine Fotos zu deinen Texten immer wieder hinreißend. Wie schön, dass du wieder mitschreiben willst, ich habe dich vermisst.
    Liebe Grüße zum Abend
    Christiane

  • #3

    Doro (Donnerstag, 15 September 2022 22:25)

    Lieber Werner,
    aber das Beste ist, wir sind nicht für die anderen verantwortlich....
    LG Doro

  • #4

    Doro (Donnerstag, 15 September 2022 22:30)

    Liebe Christiane,
    ich habe Dich auch vermisst. Dankeschön für Dein wundervolles Lob. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht was zuerst in meinem Inneren nach den Wörtern entsteht, die Bilder oder der Text.... ich fühle mich wohl, wenn aus Wörtern, Bildern und Text eine Symbiose gelingt.
    Nachtgrüße Doro