Kindertage

Kerstin liegt in ihrem Bett, Kälte strahlt die Matratze aus, dreigeteilt mit ihren Ritzen und Rundungen.

Ihr Rücken ächzt. Unter der Bettdecke noch schnell im Karl-May-Buch weiterlesen. Ihr Atem wärmt diese Höhle. Die verräterisch klopfende Heizung unter dem Fenster bleibt nachts aus, am frühen Morgen sind auch die Fenster von innen gefroren. Kerstin entkommt ihren Erinnerungen nicht, die dieser kleine Raum mit Bettgestell und dreiteiliger Matratze im Streifenbezug, dem Holzstuhl der mit der abgegriffenen Lehne, der auch ihre hätte sein können, neben dem Kopfteil stehend wartet. Ein mystisches gelbe Licht setzt das Interieur in eine fluorisierende bläulich angehauchte Szene.

Sie reißt sich los und bestaunt eine Menschengruppe, die unverdrossen innehält und für ein Foto einzufrieren scheint; schlenderte zwischen Riesen durch, sich an ihnen messend. Verweilt vor der permanenten Zeitanzeige 22:22.

Ein plastisches Lagerfeuer knistert mit wild in die Höhe flackernden Flammen auf. Kerstin atmet erleichtert auf. Es weckt keine Assoziationen an Würstchen und Co aus Kindertagen, weil schlicht nicht erlebt. Die Schulbank mit Kindern streift sie unberührt, rein gar nichts hat das mit ihren Klassenzimmern zu tun. 

Ein Lächeln huscht über Kerstins Gesicht, als sie die vertrauten Frei-, Fahrten- und Jugendschwimmabzeichen entdeckt, die ebenso wie ihren Kinderbadeanzug eine Wand plakativ verzieren.

Final ein schlichter Tisch, Stuhl und Wackelpudding, grün. Waldmeistergeschmack. Die Geschmacksnerven lassen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Als dann auch noch die Tischkante durch einen Motor angehoben wird und der Wackelpudding hüpft und dann nachwackelt ist Kirsten wieder in der Kindheitsküche, die Götterspeise in der Glasschüssel im Kühlschrank bestaunend und hoffen, dass sie schon fest geworden ist. Ein Fest, als erstes in den Glibber mit dem Löffel eindringen zu dürfen und das schmatzende Geräusch beim Anheben des Löffels – einfach einmalig. 

Zufrieden verlässt Kirsten den Parcours der Erinnerung, eine wundervolle Ausstellung. Nur der Rücken ist nachtragend.


Ich folge der wunderbaren Schreibeinladung für die Textwochen 03.04.22:

Die Wortspende für die Textwochen 03/04 des Jahres 2022 stammt zum ersten Mal von Tanja mit ihrem Blog Stachelbeermond. Sie lautet:

Wackelpudding
unverdrossen
knistern.

auf Irgendwas geht immer.

Die Spielregeln sind: Drei Begriffe in maximal 3oo Wörter zu verpacken, die Textart ist egal.


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Texte und Bilder sind eine große Faszination für mich. Hier gibt es mehr davon.

Bilder erzählen ihre eigenen Geschichten.

Die Stimmungstafeln sind eine kleine Lockerungsübung mit Motiv, Text und Farbe zu spielen.


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Kommentare: 6
  • #1

    Christiane (Samstag, 29 Januar 2022 20:29)

    Fast würde ich mir wünschen, dass es diesen Parcours der Erinnerung wirklich gäbe, da würde ich auch zu gerne mal durchlaufen! Karl May habe ich auch unter der Bettdecke gelesen, und ich kenne auch noch einfach verglaste Fenster und Ölöfen ... da war ich aber noch sehr klein.
    Bloß Wackelpudding kam bei mir nicht vor, und ich grübele seit zwei Wochen, warum eigentlich nicht.
    Kindheitserinnerungen, tja. ��
    Ganz herzliche Abendgrüße mit Sturm, schön, dass du mitgeschrieben hast! ��️�️���

  • #2

    Doro (Samstag, 29 Januar 2022 23:38)

    Liebe Christiane,
    es gibt ihn bzw. gab ihn, diesen Parcours - sowas kann man nicht erfinden, lach. Der geniale Künstler heißt Martin Honert. Und es war schon ein unglaubliches Erlebnis. Aber manchmal denk ich ich tauche in jede Kunstwelt ein wie ein Kind und staune... ganz einfach weil ich will, und ein bisschen Wunder kann es doch immer geben, oder?

    Ich weiß noch, wie Wackelpudding schmeckt, gibt es ihn noch? Ich muss mal schauen....
    mit Sturm die Grüße zurück!

  • #3

    Werner Kastens (Sonntag, 30 Januar 2022 00:04)

    Meine Lektüre unter der Bettdecke waren Wild.West-Romane, die mein Bruder mir zugeschustert hatte: Billy Jenkins und Tom Prox. Und Wackelpudding als Göterspeise gab es auch. Hmmm.

  • #4

    Tanja Stachelbeermond (Sonntag, 30 Januar 2022 11:45)

    Tom Prox hat mein Vater gelesen, ich habe auch Karl May gelesen, Winnetou und Old Shatterhand. Und Martin Honert kenne ich, der macht sehr tolle Dinge.

  • #5

    Doro (Sonntag, 30 Januar 2022 17:47)

    Lieber Werner
    Das ist ja köstlich, was es alles unter der Bettdecke zu lesen gab. Ja, das waren noch Zeiten, und Götterspeise die grüne hat glücklich gemacht :-) - Danke für Deinen Kommentar. LG Doro

  • #6

    Liebe Tanja Stachelbeermond (Sonntag, 30 Januar 2022 17:54)

    Liebe Tanja, Dankeschön für die sehr schönen Wörter.
    Was so alles nebenbei rauskommt, wir sind wohl alle eine Generation von Karl May - Leserinnen und Lesern. Bei Martin Honert finde ich es immer extrem spannend, was mit einem selbst passiert.
    Wie schön, dass Du ihn auch schätzt.
    LG Doro