abc-Etüden - Das normale Leben

Wie all die vielen Menschen wandern sie die Dünen entlang.  Sie ergreift die Initiative 

und lässt sich auf die freie Bank sinken. Herr Wenninger gleitet neben sie. Schweigen und aufs Meer sehen ist eins. Irgendwann meint Herr Wenninger: „Ostsee und Nordsee sind wirklich sehr unterschiedlich.“ Es entsteht eine Pause. Die Zeit vergeht, es war schon nicht mehr eine Reaktion auf die Feststellung zu erwarten, da wendet sie sich mit der eher beiläufig dahingesagten Frage an ihn „Und welche gefällt Dir besser?“ Die Antwort vergeht im Wind.

Betont langsam wird ein Lippenstift von ihr aus der Handtasche gezückt. Sie umrundet ihre sehr sinnlich gebogenen Oberlippen erst rechts, dann links, um dann die vollen Unterlippen mit Hingabe zu pflegen und gibt den Stift an ihren Banknachbar weiter. Dieser streicht sich recht fachmännisch die Unterlippe und dann genauso emotionslos die Oberlippen unterhalb des Bartes ein. Nach der fürsorglichen Pflege der Lippen lehnen sich beide wieder zurück. 

Eine nackte Person kämpft sich mit dauerhaft begeistert erhobenen Armen in die die Fluten. Die bekleidete Begleitung hält wohl mit dem Handy darauf und scheint es zu dokumentieren. Wem wird man diesen Film zeigen wollen, fragt sich Herr Wenninger und zückt ebenfalls sein Handy. Er erhebt sich von der Bank, streckt die Knie und beginnt seine Begleiterin wie abends seine Hand die Lieblingspraline im Schächtelchen zu umkreisen. 

Er nimmt sie ins Visier, so scheint es. Auch die Umgebung weckt sein Interesse. Ein Zusammenspiel beider Motive scheint unmöglich. Irgendwann verharrt er stehend vor ihr, das Handy auf sie gerichtet, ein halber Meter zwischen Handy und Gesicht, mehr ist es nicht. Er löst geräuschvoll aus, klappt sein Handy mit dem Hüllendeckel wieder zu. Ihr entgleitet die Bemerkung „Ganz schön nah“, darauf Herr Wenninger trocken „Ich kanns ja wieder löschen.“

Auf der Nachbarbank wird herzhaft gelacht – sie blicken auf.


Ich folge der wunderbaren Schreibeinladung für die Textwochen 25.26.21:

Die Wörter  für die Textwochen 25/26 des Schreibjahres 2021 stiftete Monika mit ihrem Blog Allerlei Gedanken. Sie lauten:

Praline
herzhaft
wandern.

auf Irgendwas geht immer.

Die Spielregeln sind: Drei Begriffe in maximal 3oo Wörter zu verpacken, die Textart ist egal.


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Bilder erzählen ihre eigenen Geschichten.

Die Stimmungstafeln sind eine kleine Lockerungsübung mit Motiv, Text und Farbe zu spielen.


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Kommentare: 2
  • #1

    Christiane (Sonntag, 04 Juli 2021 09:48)

    Nordsee, wenn du schon so fragst. Ich liebe das, was anderen auf die Nerven geht: die Gezeiten. Schon meine Mutter brachte mir bei, dass man als Tourist erst mal damit rechnen müsse, dass das Wasser "weg" sei, wenn man hinkommt. Ich habe es immer geliebt.
    Und ja, dieses In-sich-versunkene Gefühl, am Strand allein auf der Welt zu sein, das kenne (und liebe) ich auch. Ich bekomme schon Seeweh, wenn ich daran denke ... :-D
    Hab Dank für deine Etüde! :-D
    Herzliche Sonntagmorgenkaffeegrüße! :-D

  • #2

    Doro (Montag, 05 Juli 2021 09:04)

    Liebe Christiane,
    ich liebe die Nordsee auch und die Gezeiten machen es so pur. So unterschiedlich wie jeder Tag, jeder Moment des Anblicks, jede Farbe des Himmels und des Wassers ist, sind auch seine Besucher und zum Teil köstlich anzuschauen...
    LG Doro